Was ist eigentlich Stress?

Illustration einer Frau, deren Schatten ein Monster ist

Zum Thema Stress gibt es inzwischen unzählige Selbsthilfebücher und Ratgeber, ohne dass den meisten Menschen bewusst ist, was Stress eigentlich genau ist. Dies liegt daran, dass in der Regel kluge Tipps gegeben werden, wie der Stress reduziert werden kann, wenn er denn einmal da ist. Sinnvoller wäre es allerdings, zunächst einmal besser zu verstehen, worum es sich beim Thema Stress eigentlich genau handelt. Dieses Wissen lässt sich dann nutzen, um Stress effektiver zu reduzieren oder gleich ganz zu vermeiden. Daher möchte ich Ihnen im Folgenden ein paar psychologische Basics zur Entstehung von Stress näherbringen.

Im Einzelnen soll es um drei Kernaspekte gehen:

  • Stress ist ein subjektiv empfundenes Gefühl der Überforderung
  • Menschen interpretieren und bewerten bestimmte Situationen sehr unterschiedlich, daher stressen jeden von uns andere Situationen
  • Ob in einer bestimmten Situation überhaupt Stress entsteht oder nicht, hängt in hohem Maße von einem spezifischen Persönlichkeitsmerkmal ab: der Selbstwirksamkeitserwartung

 

Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, dass Stress im Kern das Ergebnis eines kontinuierlichen inneren Bewertungsprozesses ist. Stress repräsentiert dabei das Gefühl der Überforderung, das sich einstellt, wenn wir subjektiv der Meinung sind, dass die vor uns liegenden Aufgaben und Erwartungen unsere zur Verfügung stehenden Ressourcen überschreiten. Fällt also die Bewertung von Aufgabe vs. Ressourcen negativ aus, entsteht unweigerlich Stress. Fällt sie aber positiv aus, bleiben wir stressfrei – egal, wie groß die vor uns liegenden Aufgaben sind.

Ein Praxisbeispiel für die Entstehung von Stress

Ein Beispiel: Die Modedesignerin Susanne P. bekommt den Auftrag, eine neue Modelinie für ein Modehaus zu designen. Für die meisten Menschen eine unlösbare Aufgabe. Da Susanne aber an ihre Fähigkeiten glaubt und bereits positive Erfahrungen mit ähnlichen Aufträgen gesammelt hat, entsteht bei ihr zunächst kein Stress. Dann aber soll Susanne ihre Kollektion den internationalen Einkäufer:innen des Kunden in einer englischsprachigen Präsentation vorstellen. Susanne schätzt sowohl ihre Präsentationsfähigkeiten als auch ihre Englischkenntnisse als eher gering ein und fühlt sich daher kaum bereit, eine so wichtige Präsentation vor internationalem Publikum erfolgreich durchzuführen. Die negative Bewertung der zur Verfügung stehenden Ressourcen (Kompetenz, Zeit, Unterstützung) im Vergleich zur Aufgabenschwierigkeit sorgt dafür, dass Susanne in Stress gerät.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie subjektiv die Entstehung von Stress abläuft. Eine Aufgabe, die für die meisten von uns ein Gefühl der Überforderung auslösen würde, stresst Susanne nicht – die Präsentation dagegen schon. Natürlich gibt es auch Situationen oder Gegebenheiten, die praktisch jeden Menschen stressen. Dies liegt daran, dass bei manchen Ausgangssituationen die Bewertung der eigenen Erfolgsaussichten kaum positiv ausfallen kann (hoher Druck, kaum Zeit, kaum Unterstützung, hohe Ansprüche von außen oder innen usw.). Ich hoffe, es ist trotzdem deutlich geworden, wie individuell der Prozess des Entstehens von Stress abläuft und wie subjektiv die Bewertung der beiden zentralen Einflussgrößen (Aufgabe vs. Ressourcen) dabei ist.

Selbstwirksamkeitserwartung als entscheidendes Persönlichkeitsmerkmal

Ein ganz entscheidender Faktor für das Entstehen oder nicht Entstehen von Stress ist ein Teil unserer Persönlichkeit, der dafür verantwortlich ist, ob die Bewertung einer Herausforderung positiv oder negativ ausfällt. Es handelt sich dabei um die sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung. Diese repräsentiert ein bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägtes Persönlichkeitsmerkmal (man nennt dies eine Disposition). Ist die Selbstwirksamkeitserwartung bei einem Menschen stark ausgeprägt, geht dieser davon aus, Lösungen für zukünftige Probleme finden zu können. Menschen mit einer stark ausgeprägten Selbstwirksamkeitserwartung gehen in der Regel davon aus, über genügend Ressourcen zu verfügen, um ein Problem oder eine Aufgabe zu bewältigen und geraten so seltener in Stress. Da Stress langfristig negative psychische und körperliche Auswirkungen auf unsere Leistungsfähigkeit hat, wirkt die beschriebene Bewertung dann wie eine selbsterfüllende Prophezeiung und ein Teufelskreis: wer nicht daran glaubt, eine Aufgabe bewältigen zu können, gerät in Stress, wird dadurch weniger leistungsfähig, scheitert, glaubt in Zukunft noch weniger an sich, gerät noch schneller in Stress usw.

Daher ist aus psychologischer Perspektive der Aufbau von Selbstwirksamkeitserwartung ein sehr wichtiges Element für das Thema Stressreduktion. Dazu hier noch einige Tipps:

  • Versuchen Sie zunächst, Ihre individuelle Selbstwirksamkeitserwartung besser zu verstehen, indem Sie z.B. darüber nachdenken, wie genau Stress bei Ihnen entsteht und warum Sie sich bestimmte Aufgaben nicht zutrauen
  • Stärken Sie Ihre Selbstwirksamkeitserwartung, indem Sie vergangene Erfolge und Problembewältigungen reflektieren, sich Ihrer Fähigkeiten noch besser bewusst werden und konkrete Bewältigungsstrategien für aktuelle Probleme konzipieren
  • Wenn Sie Kinder haben: stärken Sie deren Selbstwirksamkeitserwartung, indem Sie ihnen Erfahrungen ermöglichen, in denen sie ihre Probleme selbst lösen
  • Greifen Sie auf die Unterstützung von professionellen Coaches und Berater:innen zurück, die mit Ihnen zum Thema Stress über Achtsamkeitsübungen, Atemtechniken und Yogaübungen hinaus gehend arbeiten können (wobei auch diese natürlich einen wichtigen Baustein der Stressreduktion darstellen)

 

Ihr Ronald Franke

 


Über den Autor:

Dr. Ronald Franke ist Geschäftsführer der LINC GmbH, promovierter Wirtschaftspsychologe und zertifizierter systemischer Coach. Als Berater und Trainer war er für Unternehmen aus den Bereichen Automotive, Pharma Maschinenbau und Handel tätig. Sein Wissen gibt er außerdem seit über 10 Jahren als Dozent an Hochschulen weiter (u. a. Leuphana Universität Lüneburg, FOM Hamburg).


 

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